›Nein‹ ist Gold wert. ›Nein‹ ist die Macht, die eine gute Hexe ausübt.Es ist die Methode, mit der es Menschen, die heil, gesund und emotional entwickelt sind, gelingt, Beziehungen zu Trotteln zu haben und gleichzeitig die Anzahl der Trottel in ihrem Leben zu begrenzen.«
Cheryl Strayed
EIN GANZES KOSTBARES LEBEN bleibt am Ende manchmal nur halb gelebt wegen des Gedankens: »Aber ich möchte niemanden verärgern.« Fast alle Menschen aus meinem Bekanntenkreis, die es gut meinen, haben Schwierigkeiten, die Grenze zwischen dieser Form der Co-Abhängigkeit und Mitgefühl zu erkennen. Die folgende Liste ist einfach und wahrscheinlich sogar simplifizierend, aber sie dient uns als Erinnerung, und zwar als eine, die wegweisend ist. Es handelt sich dabei weder um einen Moralkodex noch um Grundsätze, die ausnahmslos immer sinnvoll sind. Wenn du diese Liste bis aufs i-Tüpfelchen befolgst, könnte sie ein Rezept dafür sein, ein schrecklicher Mensch zu werden. Das schmälert jedoch nicht den Wert der folgenden Wahrheiten:
Du darfst Nein sagen.
Du brauchst es nicht unbedingt nett zu sagen.
Du hast das Recht, dein Nein nicht im Geringsten zu begründen.
Du brauchst nicht unbedingt zu wissen, warum du Nein sagst.
Es braucht dich überhaupt nicht zu bekümmern, was die andere Person anschließend empfindet.
Es darf dich bekümmern, was die andere Person fühlt, ohne dass du ihre Gefühle für deine eigenen hältst.
Es ist erlaubt, dass dich die Gefühle der anderen Person kümmern – und dass du ihr dies dennoch nicht zeigst, um erneute Verstrickungen mit ihr zu vermeiden.
Du darfst Maßnahmen ergreifen, um zu vermeiden, dass du erneut in Verstrickungen mit einer Person gerätst, nachdem du eine Grenze gesetzt hast.
Du darfst unterscheiden, wem in einer Situation jeweils welche Gefühle zuzuordnen sind, und dich nur um deine eigenen kümmern.
Du darfst so sein, dass andere keinen Sinn darin sehen.
Du darfst jederzeit weggehen.
BEIM LESEN IST VIELLEICHT ein Schwall von Aber! und Was, wenn! und Dazu bin ich aber nicht bereit! in dir hochgekommen. Diese Liste ist ganz und gar unabhängig davon. Keines dieser »Aber«, die deinen defensiven Teilen entspringen, schmälert diese einfachen Wahrheiten. Prüf nach, ob du Schuldgefühle oder Angst in deinen Reaktionen entdeckst, die du beim Lesen dieser Liste hattest. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit gibt es tatsächlich etwas, auf das du neugierig werden und das du verarbeiten kannst. Ich möchte dir vorschlagen, doch einmal mit dieser Angst und diesen Schuldgefühlen zu arbeiten. Die Arbeit mit Angst und Schuldgefühlen ist oft einfach der »Eintrittspreis« für Bereiche der persönlichen Befreiung.
DENK AN DAS LETZTE MAL, als du Ja zu etwas gesagt hast, obwohl in dir in Wirklichkeit ein Nein war. Etwas wurde von dir verlangt, vielleicht, dass du irgendwo hingehst oder etwas für jemanden erledigst, und du hast Ja gesagt, als in deinem Körper die Empfindung eines Neins aufkam. Vielleicht hast du es als egoistisch empfunden, Nein zu sagen. Oder vielleicht hast du die stark ausgeprägte Gewohnheit, nachgiebig zu sein, oder es gefällt dir inzwischen sogar so gut, andere den Ton angeben zu lassen, dass du das Nein nicht einmal »gehört« oder »gespürt« hast – und doch war es irgendwie da. Tatsächlich merken die meisten von uns oft erst im Nachhinein, dass da ein Nein war, denn wir haben nicht immer das beste Gespür für unsere Grenzen. Und hinterher, nachdem wir von dem schlauchenden Treffen wieder nach Hause gekommen sind, nachdem wir uns halbherzig auf eine Verpflichtung eingelassen haben, oder nachdem eine toxische Person, die uns Energie raubt, wieder einmal über uns hergefallen ist – dann wird uns erst klar, dass wir die falsche Entscheidung getroffen haben: dass wir für uns hätten eintreten sollen.
Zur Klarstellung: Es gibt natürlich auch Situationen, in denen wir uns innerlich gegen Dinge sträuben, die uns eigentlich guttun, wie Meditation, Sport oder Zeit mit einem Menschen zu verbringen, der eine gesunde Herausforderung für uns ist. Von einem solchen Nein spreche ich nicht. Bei so einem Nein sollten wir neugierig werden oder vielleicht lernen, wie wir es sanft umgehen können, damit wir unseren wahren Wünschen näherkommen. Ein solches Nein ist ein eigennütziges Nein. Den Unterschied zwischen einem eigennützigen und einem mitfühlenden Nein zu erkennen – darum geht es unter anderem in diesem Kapitel.
Ein mitfühlendes Nein ist die Art von Nein, die du empfindest, wenn du gebeten wirst, zu einer Veranstaltung zu gehen, und dich gegen deinen Willen breitschlagen lässt. Oder wenn du dich beim Kauf von Flugtickets wiederfindest, um jemanden – möglicherweise aus deiner Familie – zu treffen, der dir gegenüber oft beleidigend ist. Oder wenn du mit einer Person zusammen bist, die dir schon früher so oft die Energie abgezogen hat, und du dasitzt, genau diese Erschöpfung empfindest, ein falsches Lächeln vortäuschst und versuchst zu verbergen, wie gern du das Weite suchen würdest. Das ist die Art von Nein, auf die wir im Prozess der Neubeelterung, also dabei, uns selbst elterliche Fürsorge zukommen zu lassen, öfter achten müssen.
NIMM DIR EINEN MOMENT ZEIT und erinnere dich an eine Situation, die einer der oben beschriebenen Situationen gleicht. Atme tief durch, werde langsamer und durchlebe das Ereignis vor deinem geistigen Auge noch einmal. Was ist geschehen? Wie hast du dich gefühlt? Welche Gedanken gingen dir durch den Kopf? Wie fühlte sich dein Körper an? Tu das, mach dir einige geistige Notizen und komm dann wieder in die Gegenwart zurück.
Das Wichtigste ist: Was ging dabei in deinem Körper vor? War irgendwo ein Engegefühl? Wo genau? Gab es ein Schweregefühl? Angst? Was passierte mit deinen Schultern? In deinem Bauch? In deinen Armen und Beinen? Kannst du dieses Ereignis – unabhängig von deinem Körper – allgemein als ein Muster in deinem Leben erkennen? Vielleicht ein Verhaltensmuster bei einer bestimmten Person oder in einer Situation, die sich immer wieder aufs Neue wiederholt?
Das körperliche Leitsystem, auf das ich mit diesen Fragen hinweise, ist das unseres Soma – (griechisch für »lebendiger Körper«), das ständig zu uns spricht und uns Signale und Informationen sendet. Das Problem dabei ist, dass die echte intuitive Stimme des Soma oft von zu vielen anderen konkurrierenden inneren Stimmen verdrängt wird. Wenn wir üben, unseren Körper empfindsamer wahrzunehmen, wie zum Beispiel mit der Übung »Sich erden: der Atemkörper« auf Seite 109, dann wird dieses Gespür klarer. Und wenn wir auf die Führung, die wir erhalten, hören und sie befolgen, wird es noch klarer. Und wenn wir daran arbeiten, das Trauma zu heilen, das wir fast alle im Körper tragen, dann wird diese Stimme laut und klar vernehmbar wie eine Glocke.
Es ist wichtig, das Überprüfen dessen, was im Körper vor sich geht, als eine Übungspraxis zu betrachten, denn die Gewohnheit, Ja zu sagen, hat eine starke Dynamik. Wenn es dazu kommt, dass wir Nein sagen und damit Grenzen aufrechterhalten sollten, ist die Furcht vor Schuldgefühlen vielleicht das, was unsere Nein-Empfindung am stärksten außer Kraft setzt. Wir wollen niemanden im Stich lassen. Wir haben Angst davor, was der- oder diejenige von uns denken könnte. Wir fürchten die Gegenreaktion. Wir haben Angst davor, dass jemandem etwas zustoßen könnte, wenn wir uns nicht blicken lassen oder in irgendeiner Weise Hilfe leisten. Wir sehen, dass eine Person ein Bedürfnis hat, bei dem wir ihr technisch gesehen behilflich sein könnten, und fühlen uns deshalb dafür verantwortlich. Wir fühlen uns verpflichtet. All das bedeutet, dass wir die Fähigkeit entwickeln müssen, beim Neinsagen liebevoll zu sein. Wir können lernen anzuerkennen, dass wir wirklich hilfsbereite Menschen sein wollen, Menschen, die auf andere eingehen, und dass dazu viel mehr Neinsagen nötig ist, als wir dachten.
In unzähligen Sitzungen haben mir Klient*innen von leidvoll verworrenen zwischenmenschlichen Beziehungsgeflechten erzählt, in denen sie sich wiederfinden. In der Regel frage ich: »Warum haben Sie nicht Nein gesagt?«, nur um die Antwort zu erhalten: »Ich hätte mich schuldig gefühlt.« Meine Anschlussfrage lautet dann: »Was ist schlimmer, die Situation, in der Sie jetzt sind, oder die Schuldgefühle, die Sie empfunden hätten? Was ist intensiver? Was hält länger an?« Schuld ist in der Tat ein Gefühl wie ein riesiges Tier: eine furchterregende Bestie, dem wir im unüberschaubaren Wald des Lebens nicht begegnen wollen. Doch wir müssen lernen, die tierische Angst vor dem Tier der Schuldgefühle auszuhalten, wenn wir uns selbst treu bleiben und mit unserer Co-Abhängigkeit keinen Schaden anrichten wollen. Dem Schuld-Tier Raum zu geben, ist oft mit das Freundlichste, das wir tun können – für uns selbst, für diejenigen, mit denen wir in Co-Abhängigkeitsbeziehungen stecken, und als Beispiel für andere.
Das ist der erste Schritt: bereit sein, dich schuldig zu fühlen, wenn du Nein sagst oder eine bestimmte Grenze wahrst. Schritt zwei wäre, die toxische Scham anzuerkennen, die in der Schuld enthalten ist, und diesem Teil von dir die Energie der Neugierde oder Selbstliebe zu schenken, wie bei den Übungen auf den Seiten 65 ff. und 67 ff.
ES GIBT EINE LETZTE KONSEQUENZ, die sich daraus ergibt, dass du Ja sagst, auch wenn du in deinem Körper ein Nein findest. Es ist die häufigste: Groll.
MARSHALL ROSENBERG, Autor von Gewaltfreie Kommunikation, erläutert das Konzept hinter dem Begriff Mamnun, ein arabisches Wort, das »dankbar, Danke« bedeutet und ausdrückt, dass eine Person durch die Erfüllung einer Bitte gesegnet wird. ROSENBERG übersetzt dies wie folgt: »Bitte tu das, worum ich dich bitte, nur dann, wenn du es mit der Freude eines kleinen Kindes tun kannst, das eine hungrige Ente mit Brot füttert. Und bitte tu das, worum ich dich bitte, nicht, wenn auch nur ein Hauch von Angst vor Bestrafung vorhanden ist … [oder] du Schuldgefühle hättest, falls du es nicht tust.«4Ein Klient hat das einmal als »Entenbrot« abgekürzt, damit man es sich leichter merken kann.
Grundsätzlich gilt: Wenn wir spüren, dass wir etwas nicht voll und ganz bejahen, ist es wahrscheinlich am besten, Nein zu sagen und die Folgen, welche auch immer es sind, zu ertragen. Denn: Würdest du wollen, dass jemand dir widerwillig einen Gefallen tut? Oder nur aus einem Gefühl der Verpflichtung heraus? Oder, noch schlimmer, nur, weil die Person fürchtet, dass du sie beschämst, wenn sie es nicht tut?
Wenn Interaktionen in dieser Weise unausgewogen sind, wird ein Quäntchen Groll erzeugt und abgespeichert. Mit der Zeit, wenn solche Erfahrungen sich wiederholen, summieren sich diese Quäntchen. Groll gehört zu den größten Räubern von Liebe und Zuneigung auf diesem Planeten. Ich kann dir nicht sagen, wie viele Paare auf meiner Therapiecouch gelandet sind, voll von angestautem Groll, der langsam ihre einst schöne, nährende Beziehung zerfressen hat. In solchen Situationen stelle ich immer wieder fest, dass eine/r der beiden über lange Zeit hinweg Dinge toleriert und in sich aufgestaut hat, die er oder sie von Anfang an hätte ablehnen sollen. Doch das haben sie beide nicht getan. Was vor Jahren ein einfaches »Hey, das funktioniert für mich nicht, können wir einen anderen Weg finden?« hätte sein können, ist heute ein brodelnder Haufen vielschichtiger Verflechtungen, so beschaffen, dass er sich – wie es so oft und so herzzerreißend geschieht – niemals mehr auflöst.
FREUNDE VON MIR LEBEN IN EINER GEMEINSCHAFT in Brooklyn, die auf bewusste Lebensführung ausgerichtet ist und wo sie eine Gepflogenheit haben: Wenn jemand zu jemandem oder etwas Nein sagt, antwortet die andere Person: »Danke, dass du für dich selbst sorgst.« Diese Praxis entspringt dem Bewusstsein: Wenn du nicht für dich sorgst, dann läuft es darauf hinaus, dass ich das schließlich tun muss. Wenn dein Teller bereits zu voll ist und du dein Nein zu meiner Geburtstagsfeier oder meiner Auftritts- oder Brunch-Einladung nicht äußerst und stattdessen Ja sagst, dann bekomme ich zwar meinen Willen, aber das Preisschild des Grolls in unserer Beziehung weist dann einfach einen zu hohen Betrag auf.
»Nein« ist oft die mitfühlendste verfügbare Option. Doch wie bereits erwähnt: Es ist schwierig, mit der sanften inneren Stimme, die »Nein« sagt, in Kontakt zu kommen, wenn wir schon so daran gewöhnt sind, »Ja« zu sagen. Diese Übungspraxis – und im Grunde alle Übungspraktiken der Teile-Arbeit in diesem Buch – wird um einiges einfacher, wenn wir etwas Zeit auf Übungen verwenden, die unshelfen wahrzunehmen, was im Körper vor sich geht, sodass wir ein feineres Gespür für uns selbst entwickeln. Mit dieser Information im Sinn, wollen wir nun über Meditation sprechen.